Spielwiese der Kuscheltiere

Für Grizzlys ist überall Schlaraffenland. Und je älter sie werden, desto gemütlich wird ihr Leben. Wenn unsereins auf die Welt kommt, wird er meist so empfangen: Neonlicht, Kacheln, Stahl, sterile Kittel. Ein Einstand so kuschelige wie eine Kantinenküche für den Säugling.
Es geht aber auch ganz anders: Geburt in einer warmen, dunklen Höhle. Vor der Tür liegt tiefer Schnee. Die Mutter schlummert auf einem Lager aus Laub, Heu und kleinen Zweigen. Nicht mal zur Geburt wird sie richtig wach.
Kaum ist der Nachwuchs da, nimmt Mama ihn an die Brust. Danach kuschelt er sich leise quiekend und satt ins warme Fell zwischen Arm und Achsel. Unter dem anderen Arm quiekt meist noch ein Geschwisterchen. Mutters Gebrumm ist das schönste Gutenachtlied.
So unaufgeregt-gemütlich beginnt ein Bärenleben. Es ist meist Januar. Die Grizzly-Jungen wiegen dann gerade 500 Gramm, und ein Fell muß ihnen auf der nackten Haut erst noch wachsen.
Doch im Brutkasten der Bärenhöhle geht es schnell voran: Mamas Milch ist es ein wahrer Power-Drink mit 30 Prozent Fettanteil. Menschliche Muttermilch dringend es gerade mal auf vier Prozent.
Wenn im April der Schnee taut, die Bärin ihrem Winterschlaf erwacht und die stockfinstere Höhle öffnet, sind die Babys schon so groß wie Hunde. Auch Mama müßte dahin schmelzen, wenn sie ihre Jungen zum erstenmal bei Licht besieht: der Pelz wie Plüsch, die Augen wie polierte Knöpfe, die Glieder kurz, der Kopf rund, die Bewegungen tapsig - kleine Grizzlys sind hinreißend niedlich. Sie passen perfekt ins Kindchenschema, das Streichel-und Beschützerinstinkte auslöst.
Hinter ihrer Mutter purzeln die Kleinen übereinander ins Freie, und die ganze Welt wird zur Spielwiese für die Kuscheltiere. Jeden Ast müssen sie anknabbern, in jede Pfützen platschen, jedem Vogel nachjagen. Die Mutter zeigt ihnen, wie man fischt. Wenn ihr der Sinn nach Süßem steht, lernen sie Beeren kennen. Sucht sie Käfer, dreht sie Steine um. Schlimmstenfalls ist ein Kittel Campingplatz in der Nähe. Dann lernen die Jungen, wie man Wohnwagen knackt, Kühlschränke öffnet und mit einer Krallen Konserven aufreißt. Pech, wenn sie dabei ein Ranger überrascht und zur Waffe greift.
Solange Grizzlys sich aber von Menschen fernhalten, kann ihnen keiner etwas anhaben: kein Puma legt sich mit einer Grizzlybärin an. Bei ihrem Anblick klettert ein Schwarzbären eilig in die Baumwipfel, und Wölfe kneifen kollektiv die Schwänze ein und ziehen Leine.
Doch auch mächtige Tiere wie Grizzlybären habe ein Problem: kein natürlicher Feind reguliert ihren Bestand. Keiner sorgt dafür, daß die Evolution funktioniert, daß nur die Tüchtigsten überleben.
Diese Auslese müssen die Tiere selbst übernehmen. Dafür sorgen die großen Männchen, die jedes Bärenjunge töten, das erwischen können. Und nur eine Mutter, die selbst groß, stark und kampfeswillig ist, kann ihren Nachwuchs verteidigen.
Wenn die Jungen-Grizzlys diese Hürde einmal geschafft habe, unter dem Schutz der Mutter zweieinhalb Jahre alt und endlich selbständig geworden sind, liegt ein herrliches Leben vor ihnen. Niemand im den Bergen, Wäldern und Tundren ihres Verbreitungsgebiets ist stärker, schneller und aggressiver als ein Grizzly.
Der Bärenforscher Douglas Chadwick beobachtete einen Grizzlys, der einen trocken Bisons, eine halbe Tonne schwer, zwischen den Zähnen abschleppte und dabei ab und zu sogar in leichten Trab verfiel. Ein anderer erwischte im Yellowstone-Nationalpark einen Schwarzbären mit einem Tatzenhieb, worauf der meterweit gegen einen Baum knallte und tot liegenblieb. Grizzlys können einen flüchtigen Hirsch einholen, aber auch seelenruhig einen Bienenstock ausräumen. Sie steigen auf 3000 Meter Höhe und weiden Bergblumen. Dort oben wurden die Pelztiere gesichtet, wie sie Schmetterlinge verschlangen - die Falter bestehen aus 80 Prozent Fett und 20 Prozent Protein. Bären trotten durch ein Schlaraffenland, in dem ihnen die Leckerbissen regelrechte ins Maul fliegen.
Dazwischen bleibt ihnen genug Zeit, in der Sonne zu liegen, sich den Rücken an Ästen zu scheuern oder ein kühles Bad zu nehmen. Der Tierfilmer Doug Peacock sah einen Grizzly, der selbstvergessen stundenlang in einem flachen See saß, immer wieder ins sonnendurchschienene Wasser pustete und dann mit der Tatzeit nach dem Luftblasen schlug. " Glückspilz" taufte Peacock diesen Bären.
Soll man sich solch einen besonderer Sommer mit Herzeleid und Liebeskummer verderben? Kein Bär käme auf die Idee. Die Mänchen machen unter sich mit dem Tatzen aus, der den Nachwuchs zeugt, und die Weibchen fordern weder Schmus noch Werbung. Formlos und sachlich verläuft die Paarung, dann geht jeder seiner Wege.
Wenn im November die Sonne Kraft verliert, wenn es stürmisch, kalt und ungemütlich wird, sucht ein Grizzly sich einen Südhang, gräbt einen drei bis zehn Meter tiefen Gang hinein und baut sich am dessen Ende eine Höhle von etwa 2 Meter Durchmesser. Die polstert er aus-und legt sich schlafen-bis April. Und wenn er eine Sie ist, krabbeln sechs Monate später zwei Kuscheltiere hinter der Winterschläferin aus der Höhle.

Walter Karpf aus der TV Zeitschrift Hörzu.
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